Historische Saatgutmuster aus der Ukraine durch Krieg gefährdet

2022-09-09 17:41:33 By : Admin

Wissenschaftler sind alarmiert: Die nationale Saatgutbank der Ukraine in Charkiw könnte zum Opfer des Krieges werden. Ein Großteil der Bestände ist noch nicht gesichert und könnte für immer verloren gehen.

Der Krieg in der Ukraine bedroht nicht nur die Menschen vor Ort, sondern auch wissenschaftliche Schätze. Konkret geht es um die Sicherung der landwirtschaftlichen Vielfalt. Ein internationales Expertenteam bemüht sich derzeit um die Rettung der nationalen Saatgutbank der Ukraine. Diese bedeutende Sammlung im Jurjew-Institut für Pflanzenbau in Charkiw enthält mehr als 100.000 Saatgutmuster. Einige der Bestände seien einzigartig, sagt Stefan Schmitz. „Falls sie zerstört werden, sind diese Pflanzen unwiederbringlich von der Erde verschwunden, wenn keine Sicherheitskopien in anderen Saatgutbanken hinterlegt wurden“, ergänzt der geschäftsführende Direktor des globalen Treuhandfonds für Nutzpflanzenvielfalt (Crop Trust).

„Das Land baut auf großen Flächen bedeutende Nutzpflanzen wie Weizen, Raps, Sonnenblumen und Gerste an und hält eine ungeheure Sortenvielfalt mit großer genetischer Bandbreite in der nationalen Saatgutbank bereit“, erklärt Schmitz. Die Ukraine ist seit Jahrtausenden eine Kornkammer, früher für die Region, heute für die ganze Welt. „Da kann man sich vorstellen, wie vielfältig das ist, was im Laufe der Zeit an Saatgut gesammelt und deponiert wurde“, erklärt Stefan Schmitz.

Dieser botanische Schatz ist nun gefährdet. Im Mai dieses Jahres gab es bereits erste Berichte, die ukrainische Saatgutbank sei durch ein Feuer nach einem russischen Angriff zerstört worden. Entsprechende Videos kursierten im Netz. Ein Expertenteam der Welternährungsorganisation FAO, verschiedener europäischer Forschungs- und Regierungseinrichtungen und des Crop Trust untersuchte die Lage vor Ort. „Es stellte sich heraus, dass es sich glücklicherweise nicht um die nationale Saatgutbank in Charkiw handelte, sondern dass durch den Angriff eine Agrarforschungsstation in der Nähe der Stadt zerstört wurde, zudem wurden Versuchsfelder in Mitleidenschaft gezogen“, sagt Stefan Schmitz. Dennoch habe ihn das Geschehen sehr beunruhigt. „Man kann eine Saatgutbank nicht komplett gegen militärische Angriffe schützen.“

Welcher Verlust für die Wissenschaft eintreten könnte, wird in der Öffentlichkeit unterschätzt. Die globale Bedeutung von Saatgutbanken wie derjenigen in Charkiw ist kaum bekannt. Die Sammlungen sichern vor allen Dingen den Samen alter Sorten, die häufig seit Jahrzehnten in der Landwirtschaft nicht mehr angebaut werden. Die Genbanken beinhalten aber auch viele Wildformen heutiger Kulturpflanzen. Sie setzen ihre Schwerpunkte meistens auf die Klimaregion, in der die Forschungsstätten liegen.

Deutschland besitzt eine Sammlung in der Genbank am Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK). Die ältesten Bestände in Gatersleben stammen aus den 1920er Jahren. Diese alten Landsorten wurden beispielsweise vom österreichischen Naturforscher Erwin Mayr bei Forschungsreisen in den Alpen zusammengetragen.

Sie werden heute vom IPK an Züchter und Wissenschaftler weitergegeben. Damit das Saatgut keimfähig bleibt, wird es in Abständen von 20 oder 30 Jahren immer wieder ausgesät. Die Saaten aus der Ernte werden dann verpackt und in der Genbank als neue Reserve eingelagert. Während dieser Vermehrung des Saatguts dokumentieren die Forscher die Eigenschaften alter Landsorten. Dieses Wissen kommt den Züchtern zugute. Die Sammlung in Gatersleben ist eine der größten weltweit. Sie umfasst 151.348 Saatgutmuster aus 92 Pflanzenfamilien, besonders groß sind die Bestände an Weizen und Gerste.

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Die Gefahr, dass einige der weltweit 1750 Saatgutbanken schwere Schäden erleiden, ist real. Naturkatastrophen wie Erdbeben, Taifune oder Überschwemmungen haben den Genbanken in Nicaragua (1971), Honduras (1998), Thailand (2011) und auf den Philippinen (2006 und 2012) stark zugesetzt. In Afghanistan (2001) und im Irak (2003) wurden die Saatgutdepots Opfer des Krieges. Auch die syrische Genbank in Aleppo überstand den Bürgerkrieg nicht. Sie wurde im Jahr 2015 völlig verwüstet. Das Internationale Zentrum für Agrarforschung in Trockengebieten (ICARDA) hatte aber frühzeitig reagiert und schon zu Beginn des Bürgerkrieges Duplikate des Bestands außer Landes gebracht. Etwa 80 Prozent der Sammlung konnten auf diesem Weg im Internationalen Saatguttresor auf Spitzbergen gerettet werden. Inzwischen wurden sie zu den beiden neuen Standorten des Instituts im Libanon und in Marokko zurückgebracht.

So weit sind die Wissenschaftler in der Ukraine noch nicht. Bisher sei nur ein kleiner Anteil der Genbank außerhalb des Landes gesichert, so Schmitz. „Unter der Leitung der FAO, die ein eigenes Büro in Kiew hat, bemühen wir uns jetzt, die Duplizierung der Genbankenbestände so schnell wie möglich voranzutreiben“, sagt der Direktor. Das alte Saatgut werde auf landwirtschaftlichen Flächen ausgesät, die daraus gewonnenen Sortenmuster sollen nach Spitzbergen gebracht werden. Dafür benötigen die Ukrainer Zeit. „Man kann den Erntezyklus nicht beliebig beschleunigen“, erklärt Stefan Schmitz.

Ukrainische Forscher und Züchter nutzen die Genbank des Jurjew-Instituts seit Jahrzehnten zur Verbesserung der modernen Kulturpflanzen. Einige international verbreitete Weizensorten stammen aus Züchtungen in dieser Region. Die Bedeutung der Sammlung werde in den kommenden Jahren weiterwachsen, weil der Klimawandel höhere Anforderungen an Weizen, Raps, Sonnenblumen und Gerste stelle, so Schmitz. „Wir können mit diesem Schatz den dafür nötigen Züchtungsprozess schneller, effizient und effektiv gestalten“, ergänzt der Direktor des Crop Trust.

Schmitz sieht für die 1750 Saatgutbanken auf der Welt weitere Probleme. „Die Kulturpflanzen, die durch den Menschen in Tausenden Jahren Ackerbau geschaffen wurden, sind Teil der Biodiversität, die wir schützen müssen“, sagt er. In vielen Ländern seien die Genbanken aber finanziell schlecht ausgestattet, häufig fehlten die Einsicht in die Bedeutung dieser gelagerten Schätze und der politische Wille, die Betreiber der Sammlungen ausreichend zu unterstützen.

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Rainer Kurlemann ist promovierter Chemiker und arbeitet seit mehr als 30 Jahren als Journalist. Er schreibt nicht nur über Wissenschaft, sondern sucht als Moderator auch den Dialog mit Menschen und Innovationen für die Diskussion über Wissenschaft. „Der Geranienmann“ ist sein erster Wissenschaftskrimi, weitere Bücher werden folgen.

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